Rezo, AKK und MM aus Dülmen – einige Anmerkungen zur Forderung nach Regulierung in Sozialen Netzen als „Schutz vor Meinungsmache“
Rezo, AKK und MM aus Dülmen – einige Anmerkungen zur Forderung nach Regulierung in Sozialen Netzen als „Schutz vor Meinungsmache“
Von Michael Stiels Glenn
1. Das YouTube-Video von Rezo (die Zerstörung der CDU) hat in wenigen Tagen mehr als 12,7 Mio. Aufrufe bekommen. Rezo fasste zusammen, was hunderte Wissenschaftler und Experten über Jahre vorgetragen haben.
2. Da aber die einzigen Wissenschaftler, die bei Politikern überhaupt Gehör finden, die Demoskopen und ihre Wahlprognosen sind, und weil viele Wissenschaftler ihre Warnungen isoliert in ihren Fachgebieten vortrugen (und manche sich dabei nicht gerade „volksnah“ und verständlich ausdrücken), wirkte das Video von Rezo wie eine Bombe.
3. Das Video war nicht wahlentscheidend, löste aber so viel Echo aus, dass in der CDU-Spitze kurz Entsetzen herrschte und man nicht wusste, was man jetzt denn tun soll. Es gab sogar überstürzte Erklärungen, die CDU habe die Bedeutung des Klimawandels für Wahlen (!!!) nicht rechtzeitig verstanden und müsse lernen, mit jungen Menschen besser zu kommunizieren.
4. Dann kam nach der EU-Wahl die „Hoffnungsträgerin“ der CDU, AKK und zieht die richtigen Schlussfolgerungen. Solche YouTuber-Störaktionen seien „Meinungsmache“. Und die müsse man, wenn nicht grundsätzlich, so doch zumindest vor Wahlen, rechtlich unterbinden (AKK sollte sich mit dem Dülmener Beigeordneten Noelke zusammensetzen, der mit solchen Verboten aktuelle Erfahrungen hat).
5. Der Lokalchef der Dülmener Zeitung, hauptberuflich Journalist und nebenberuflich in den sozialen Netzwerken unterwegs, beginnt auf facebook eine Debatte, ob man in den sozialen Netzen nicht regulierend eingreifen müsse.
6. Ich möchte festhalten: Jahrtausende lang hatten kleine Leute nichts zu wählen und nichts zu melden. Das wurde notfalls mit Schwert, Knüppel und Gewehr geklärt, eingetrichtert oder notfalls „eingebläut“. Als nun nach dem Wahlrecht auch noch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild nicht mehr vermieden werden konnte, nutzten die Herrschenden ihre Möglichkeiten zur „freien“ Information und wirkten an der Willensbildung der Bevölkerung mit. So wurde von Kirchenkanzeln noch an Wahlsonntagen Wahlpropaganda (z. B. die Drohung mit dem Fegefeuer, falls man die „falschen“ Parteien wählt) betrieben. Diese Art freie Meinung hieß „Hirtenwort“.
7. Paul Sethe, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), sagte 1965: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. … Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher.“ Sethe muss gewusst haben, wovon er redet. Die Mächtigen haben immer Berufsjournalisten bezahlt, die mit Schreiben für sie und ihre Interessen Geld verdienen.
8. Pressefreiheit war also bis zur Erfindung des Internets weitgehend davon abhängig, wem Zeitungen gehörten. Bis heute entscheiden Berufsjournalisten, worüber und über wen sie berichten – und worüber nicht. Sie weigern sich mit unterschiedlichsten Argumenten, Leserbriefe abzudrucken, sie kürzen eingesandte Beiträge. Und wenn mal ein Beitrag den Werbekunden nicht passte, genügte der Hinweis an die Herausgeber, man könne seine Anzeigen auch anderswo schalten.
9. Wenn nun bezahlte Berufspolitiker sich mit bezahlten Berufsjournalisten zusammentun, gilt das nie als „Meinungsmache“, sondern als „gemeinsames Wirken an der Meinungsbildung der Bürger – wobei mit Bildung keineswegs Bildungspolitik gemeint ist, wie man denken könnte. Als Kriminologe weiß ich: Mit Falschmeldungen über Kriminalität werden heute Wahlkämpfe gemacht – und gewonnen, Meinungen werden gebildet! Wenn AKK (gern auch Frau Nahles) „etwas unters Volk bringen will“, ruft sie einfach im Hauptstadtstudio
10. Karl Kraus, der in der Weimarer Republik die Presse kritisch beobachtete, schrieb dazu: „Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? – Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie´s lesen.“
11. Die Verfügung über Möglichkeiten, seine eigene Meinung (außerhalb der Rufweite, des Stammtisches, von Briefen oder selbst hergestellten Flugblättern) war lange auf einen kleinen Kreis begrenzt, der sehr genau darauf achtete, wem er mit welchen Ansichten Zugang gewährte.
12. Erst mit der Erfindung des Internets und der sozialen Netzwerke änderten sich die Verhältnisse: Nun konnte JedeR vom Konsumenten von Nachrichten und Botschaften zum Verfasser, zum Autor UND zum Verleger werden. JedeR kann nun seine Informationen, seine Ansichten und Meinungen posten.
13. Dass dabei auch viel Unsinniges und Ärgerliches verbreitet wird, ist nicht zu vermeiden. Dass aber zum Problem der sozialen Netzwerke zu machen, ignoriert völlig, wie viel Unsinniges und Ärgerliches vor den Zeiten des Internet durch die „klassischen Medien“ verzapft worden ist.
14. Aber WEIL jedeR selbst veröffentlichen kann, sind die sozialen Netzwerke eben ein durchaus demokratisches Medium – auch wenn einige das nicht wahrhaben wollen.
15. Der Unterschied zu den klassischen (Print-)Medien ist der, dass hier eben nicht Berufsjournalisten mit Berufspolitikern zusammenarbeiten, sondern dass eben Laien, Nicht-Professionelle, unbezahlte Leute ihre Meinung kundtun.
16. Die tun ihre Meinung übrigens kund, UM gehört, gelikt, kommentiert und geteilt zu werden. Auch diese Laien wollen – wie Berufspolitiker UND Berufsjournalisten – Einfluss nehmen auf die öffentliche Meinung. Ist das unanständiger als das Treiben in den „Leitmedien“?
17. Wenn man Rezo (übrigens auch Greta Thunberg!) nun vorhält, hinter dem stünden ja Mitarbeiter, Manager und eine Werbeagentur (so Wolfgang Kleideiter in der DZ vom 29.5.2019), der muss Stellung nehmen, dass auch AKK, Horst Seehofer und Andrea Nahles einen ganzen Stab von Mitarbeitern, Managern und Werbeagenturen hinter sich haben – ich vermute, einige mehr als Rezo! Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied: Die Teams von Rezo und Greta Thunberg bezahlen wir als Steuerzahler nicht, die Teams der Berufspolitiker sehr wohl.
18. Es geht also letztlich um Meinungsfreiheit und ihre Verteidigung – um nicht weniger! Es geht um die Möglichkeit der vielen tausend, ihre Meinung kundzutun, „Follower“ zu bekommen und Einfluss zu nehmen auf unsere Demokratie, die aus MEHR besteht als alle paar Jahre zur Wahl zu gehen und seine Stimme abzugeben (Interessant hier: Die unvollendete Demokratie, Ute Scheub 2017). Bürgerbeteiligung – das ist mehr als nur Information oder mal eine Anhörung – ist eine sinnvolle Antwort auf das Erstarken rechter Bewegungen. Und bei Bürgerbeteiligung hat Dülmen – in Verwaltung, Politik und in den lokalen Medien – aus meiner Sicht Nachholbedarf.
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Leser (Donnerstag, 30 Mai 2019 16:06)
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